LINN LÜHN

SEBASTIAN LUDWIG

Nullpunkt

January 16 – February 28, 2009

Nullpunkt ist ein vieldeutiger Begriff. Beim Bogenschießen versteht man darunter genau die Entfernung, bei der sich Sehlinie und Flugbahn des Pfeils schneiden. Dieser Punkt liegt bei jedem Schützen woanders und ist doch die Basis, von der aus verschiedene Ziele anvisiert werden. In den Naturwissenschaften bezeichnet der Nullpunkt den Anfang einer Skala oder den Ursprung eines Koordinatensystems. Auch Stimmungslagen können nahe am Nullpunkt sein, dann fehlen Hoffnung und Tatkraft, aber man kann darin auch die Chance für einen Neuanfang sehen. Es ist ein Begriff, der in verschiedenen Bereichen eine ganz eigene Bedeutung entwickelt hat.

Auf diese Mehrdeutigkeiten muss man sich auch bei den Arbeiten von Sebastian Ludwig einlassen. Zwar gibt es meist ein klar benennbares Motiv, aber je näher man sich mit der Komposition beschäftigt, umso mehr entzieht sich der Inhalt einem eindeutigen Zugriff. Bei der Arbeit Adler beispielsweise duckt sich ein Hase unter einem igluförmigen Gerüst während sich von oben ein Greifvogel nähert. Wird der Adler den Hasen ergreifen oder dient der Hase vielleicht nur als Köder für den Vogel? Welche Funktion hat also das Gerüst, das beide Tiere voneinander trennt – bietet es Schutz oder ist es eine Falle?

Doch geht es Sebastian Ludwig nicht nur darum, eine Geschichte zu erzählen. Jede Arbeit ist für ihn eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Malerei. Zwischen Idee und Umsetzung liegen verschiedene Recherchephasen und vielstufige Arbeitsschritte. Oft baut Ludwig dabei dreidimensionale Modelle, um an ihnen Detailfragen zu studieren. Dieser aufwändige Entstehungsprozess gibt ihm die Möglichkeit, an dem Thema aber mehr noch an der malerischen Umsetzung zu arbeiten, und die Leinwand ist Zeuge dieses Ringens um Darstellung. Sie ist eine vielfach geschichtete Ebene mit verschiedenen Strukturen: bestimmte Partien hat Ludwig abgeklebt, um Farbe zwischen Leinwand und Folie laufen zu lassen. Später hat er diese Oberfläche aufgeschnitten oder abgerissen - die holzschnittartigen Strukturen verdanken sich also einer Zerstörung von Materialität. Im Gegensatz dazu stehen glatte Flächen, die Ludwig sehr fein ausarbeitet und bei denen er manchmal Sprühfarbe verwendet, um weiche Übergänge zu schaffen.

Trotz dieser Spannungen aber geht es dem Künstler darum, ein Gleichgewicht zu schaffen, das die Mehrdeutigkeiten und Kontraste in sich aufnimmt ohne sie zu verdecken. Sebastian Ludwig arbeitet wie ein Chronist, aber er schöpft aus vielen Quellen und Jahrhunderten. Er greift seine Figuren und Motive aus den Zeiten heraus, verknüpft und bearbeitet sie und stellt sie dann in unsere Gegenwart. In ihrem neuen Kontext entwickeln sie ein ganz eigenes Leben, in dem Handlungen und Konstellationen auf grundsätzliche Fragen verweisen. Mit diesen Fragen kann sich jeder Betrachter auf seine Weise auseinandersetzen, sowie auch jeder Bogenschütze seinen eigenen Nullpunkt herausfinden muss, will er sein Ziel treffen.

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Zero point is a concept with a variety of meanings. In archery it stands for the precise distance at which the trajectory of the arrow and the archer’s line of vision intersect. This point is located respectively for each individual archer and yet forms the basis for the ascertainment of different targets. In science, the term zero point designates the beginning of a scale or the origin of a system of co-ordinates. Even moods can be close to reaching a zero point, where hope and motivation have gone, nevertheless a chance of a new beginning still remains. It is a concept that has taken on its own specific meaning in a variety of different contexts.

Similarly, one has to accept a degree of ambiguity in the works of Sebastian Ludwig. There isn’t a clearly definable motif as such, but the more one engages with a specific composition, the more elusive unequivocal access to the content becomes. For example, in the work entitled Adler (Eagle), a hare crouches beneath an igloo-shaped frame as a bird of prey approaches from above. Will the eagle seize the hare or is the hare merely bait for the predator? What is the function of the frame that separates both animal and bird—does it provide refuge or is it rather a trap?

And yet Sebastian Ludwig is not concerned with narrative. For him, each work is an engagement with possibilities of painting. Between the idea and implementation lie different phases of research and several stages of development. Ludwig often constructs three-dimensional models in order to study their detail. This highly-involved generative process provides him with the opportunity to explore the theme in question, but also to develop more the aspect of painterly execution or implementation, the canvas being the witness to this weighty tussle for representation. The canvas is a multi-layered plane comprising different structures: Ludwig has stuck certain sections onto it in order to allow the paint to take its course between canvas and foil. At a later stage he has cut or torn open the surface—the woodcut-like structures owing their appearance to a veritable destruction of materiality. Ludwig has delicately constructed smooth, flat surfaces by way of contrast, occasionally using spray paint to create soft transitions.

Despite these tensions, the artist is at pains to effect a balance that absorbs ambiguities and contrasts without necessarily concealing them. Sebastian Ludwig’s method of working resembles that of a chronicler, but one who draws upon material from many sources and centuries. He extracts his figures and motifs from various bygone eras, connecting and developing them and ultimately placing them in the present. Thus they take on their own unique existence in their new contexts; it is an existence imbued with actions and constellations that refer to fundamental questions, to which each individual viewer can respond respectively much in the same way that all archers must find their individual zero point if they are to hit their targets.

Julia Bulk

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